Wie Journalisten Eltern beschimpfen: Ihr macht aus Kindern Tyrannen

„Es gibt Probleme – auch in Familien“. Das ist kein Inhalt, der zu hohen Klickraten auf einer Website führen würde. Auch ein Buch mit diesem Titel ließe sich nicht verkaufen. Um solche Ziele zu realisieren, neigen einige Zeitgenossen zur Skandalisierung. Soweit so schade. Denn das Thema Elternschaft ist zentral. Es zeigt auch, wie wichtig es ist, Aussagen mit Evidenz belegen zu können. Und zwar nicht mit einer kurzen Befragung sondern mit vielen validen Studien – am besten im Längsschnitt, also über Jahre.

Seit einiger Zeit geistern Tyrannen durch die Welt der Gazetten und Ratgeberbücher. Dabei hatten schon vor Tausenden Jahren Eltern Probleme damit, dass ihre Kinder nicht gehorchten. Und selbst ernannte Expertinnen wie die Wiener Gynäkologin und Fachärztin für Psychosomatik Leibovici-Mühlberger verkaufen seit 2016 den verunsicherten Eltern Verantwortung und Schuld am Tyrannen-Dilemma im Kinderzimmer. In ihrem Buch prophezeit sie, dass eine Generation von Tyrannen heranwachse, weil wir so viele Helikoptereltern hätten, die nur die Bedürfnisse der Kinder im Blick hätten und keine Grenzen kennen würden. Die Frau hat natürlich keine empirischen Belege für ihre Behauptungen vorlegen können.

Wenn Lehrer Diagnosen stellen

Aber da ein Jahr später die DAK zusammen mit Forsa heraus fand, wie schlimm es um Grundschulkinder stehe angesichts der psychischen Stabilität und Gesundheit, war abzusehen, dass keine vier Jahre später ein Quantitätsmedium aus dem Springer-Verlag dieselbe Geschichte um Tyrannenkinder strickte, mit dem genauso tendziösen wie sachlich falschen Teasertext: „Eltern versagen in der Erziehung, drücken sich vor Führung und Verantwortung. Das Ergebnis sind „Tyrannenkinder“.“ Die zitierte Studie des Forsa-Instituts im Auftrag der DAK wird mit dem Ergebnis zusammengefasst, dass 500 Lehrende feststellten, dass körperliche und psychische Probleme deutscher Grundschüler zugenommen hätten. Die Lehrer wurden einmal befragt im Frühjahr 2016. Wie man auf diese Weise objektiv eine Veränderung messen kann weiß wohl nur das Forsa-Institut. Neben motorischen Schwächen, Übergewicht und Verzögerungen bei der Sprachentwicklung berichteten die Lehrer über Konzentrationsschwierigkeiten und sozial auffälliges Verhalten. Die Präzision diganostischer Fähigkeiten von Grundschullehrern wurde ebensowenig erhoben wie die Frage ob und in welchen Abständen Lehrer solche Beobachtungen aufzeichnen: Ob Lehrer Aussagen auf der Untersuchungsebene einzelner Schüler, ganzer Klassen, Jahrgangsstufen oder ganzer Geburtsjahrgänge machten, sei dahin gestellt. Wahrscheinlich können weder Forsa noch die Lehrer diese Frage klar beantworten. Klar wird dadurch, dass solche Narrative geschraubt werden, um Stimmung zu machen. Sie zeigen jdeoch vor allem eines: Ohne empirische Belege und ein klares Benennen der Untersuchungsebene, sind Aussagen über Tyrannen oder die Entwicklung von Grundschülern von der „Erziehungsexpertin“ oder Querschnittsbefragungen über jahrelange Entwicklungen nicht das Papier wert auf dem sie gedruckt sind. Schlimm ist, dass durch Begriffe wie „Ärztin“ oder „Institut“ Menschen verleitet werden solchen Behauptungen Glauben zu schenken.

Fazit

Kinder sind nie Tyrannen. Sie sind verzweifelt, aggressiv oder emotional isoliert. Einige sind traumatisiert. Besonders viele sind allein, weil beide Eltern arbeiten und auch abends wenn mindestens ein Elternteil da ist, ist oft wenig Zeit und Raum für Bedürfnisse nach Nähe, Austausch und Geborgenheit. Sei es weil die Eltern erschöpft sind oder die schulischen Leistungen der Kinder optimieren oder zuviel Ballett, Klavier und Handygefummel von allen Beteiligten statt findet. Tyrannei ist da nicht zu erkennen. Experten sprechen von sozialer und emotionaler Verwahrlosung. Das passiert in reichen wie in armen Haushalten. Und Kinder in der wohlhabenden Vorstadt sind besonders gefährdet. Aber nicht wegen fehlender Grenzen sondern wegen des Leistungsdrucks und weil Eltern keine emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufrecht erhalten (können).

Übrigens: Der stärkste Effekt geht vom gemeinsamen Abendessen aus. Kinder, die wenigstens ein Elternteil täglich beim gemeinsamen Abendessen erleben, neigen in der Jugend deutlich seltener zu Substanzmißbrauch und psychischen Problemen wie Angst und Depression.

Wenn Sie das nächste Mal über Eltern in ihrer Organisation nachdenken: Überstunden, ständige Anwesenheit und wochenlanger Sondereinsatz für die Firma. Bedenken Sie bei Ihrem Führungsstil nicht nur was Year-To-Date hinten raus kommt. Besonders Fühungskräfte stehen dem Problem gegenüber, dass von Ihnen hohe Wochenarbeitstunden  quasi  als Rollenmodell erwartet werden. Die Forschenden um Luthar und Latendresse (2005) zeigen, dass das ein starker Prädiktor für seelische Probleme und Drogenkonsum ihrer Kinder ist.

Nehmen Sie sich zwei Minuten Zeit und denken Sie über die Auswirkungen Ihrer Maßstäbe und Erwartungen nach – für die Eltern, deren Kinder und die Zukunft unserer Gesellschaft. Es geht um die Organisationskultur oder neudeutsch: Werte, Sinn (neudeutsch purpose) und letztlich Retention Management und Krankentage. Und bitten Sie zukünftig alle Berater und Experten empirische Beweise vorzulegen in den Workshops und Seminaren, die Sie für sich, Ihre Mitarbeitenden und Kollegen buchen. Denn bloße Behauptungen können großen Schaden zufügen, vor allem wenn es Sätze sind, die eingängig klingen und intuitiv sinnvoll scheinen.

Kinder sind übrigens sehr selten Tyrannen, es sind werdende Persönlichkeiten, die sich entwickeln. Auch wenn sie mit sechzehn schon erwachsen wirken! Ihre Forderungen korrespondieren mit dem Angebot der Umwelt. Und Eltern sind keine Tyrannenmacher, sondern eingezwängt in Wünsche, Pflichten, Aufgaben und innere und äußere Erwartungen. Schuldzuweisungen lösen keine Probleme.

 

Luthar, S. S., & Latendresse, S. J. (2005). Children of the affluent: Challenges to well-being. Current Directions in Psychological Science, 14, 49-53. http://doi.org/10.1111/j.0963-7214.2005.00333.x

https://www.monitor-versorgungsforschung.de/news/dak-studie-immer-mehr-grundschueler-haben-gesundheitsprobleme

https://www.welt.de/vermischtes/article155613160/Wie-Eltern-ihre-Kinder-zu-Tyrannen-machen.html